Baustelle des Bewegten Religionsunterrichts

"Theaterregisseure, Choreografen, Veranstalter von Großdemonstrationen, ja sogar Greenpeace-Akteure übersetzen Texte oder Sprachbotschaften in leiblich erfahrbare Gleichnisse und Handlungssymbole. Dabei werden diese Gleichnisse in einem Spannungsfeld entwickelt zwischen allgemeiner Verständlichkeit und künstlerischer Gestaltungsfreiheit. Wer sich über Körper- oder Handlungssymbole mitteilen möchte, kommt nicht umhin, in die Gesellschaft hineinzuspüren und ihre aktuellen Körpersprachen zu verstehen.

Auch für die Weiterentwicklung des Bewegten Religionsunterrichts stellt sich die immerwährende Aufgabe, sensorisches Erleben, leibliche Selbstdarstellung, leibliche Selbstbewertung und Bewegungshandeln in der gegenwärtigen Gesellschaft zu beobachten und zu untersuchen. Denn in ihrem Umgang mit der Körperlichkeit spiegelt eine Gesellschaft ihre Wertesysteme, ihre Achtung der Menschenwürde in den unterschiedlichsten Lebensbereichen, ihr Bewusstsein von Sterblichkeit und Endlichkeit, Selbstbestimmung oder Manipulation, die Sehnsucht nach Glück u.v.m.

Allgemein verständliche Symbolhandlungen, die sich aus Ritualen entwickeln, sind abhängig von ihrer Kultur und ihrer Zeit. Würde heute ein Politiker vor der Kamera sein Hemd zerreißen, würde kein Mensch verstehen, was er damit will. Als aber der Hohepriester laut Passionstext des Matthäusevangeliums sein Gewand zerriss, verstand damals jedermann dies als Zeichen des Zorns und der Trauer. Willy Brandts Kniefall in Warschau (am Mahnmahl für die Toten des jüdischen Ghettoaufstands) wiederum wurde 1970 von der Welt verstanden als beeindruckende Geste, in der sich die Bitte um Versöhnung mitteilte. Zeitgeist ist erkennbar an seinen Zeichen und jede gesellschaftliche Gruppe hat ihre eigenen speziellen Symbole.

Jedoch über den Zeichen- und Ritualcharakter hinaus können Bewegungserfahrungen zum Bedeutungsträger werden, wenn man in ihnen eine Symbolik entdeckt, die über den alltäglichen Anlass dieser Bewegungshandlungen hinausweist.“ (Elisabeth Buck, Religion in Bewegung, Sekundarstufe I, Göttingen 2005, S.14

Das Konzept Bewegter Religionsunterricht ist auch insofern ein bewegliches Konzept, als es sich mit den individuellen Menschen, die sich darin bewegen, auch immer wieder verändert. Denn die Bewegungsgestaltungen im Bewegten Religionsunterricht führen zum Gespräch. Es ist also nicht die leitende Person, die predigend zu den Gestaltungen ihre Interpretationen äußert. Stattdessen werden die unterschiedlichen Entdeckungen mit den Teilnehmenden diskutiert und untersucht. Dass dadurch die leitende Person selbst immer wieder neue Impulse erfährt und Perspektivenwechsel erlebt, ist dem Konzept des Bewegten Religionsunterrichts immanent. Die leitende Person muss eine hörende Haltung innehaben und die Prozesse des Unterrichts immer auch als Baustelle begreifen, in der Neues entstehen darf.

 

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